H wie Hammer

H wie Hammer

Manchmal hat es den Anschein, in den Umkleiden und vor den Ballettsälen seien Handwerker am Werk. Es wird gehämmert, geklopft und geschlagen. Macht man sich auf die Suche nach dem Unruheherd begegnen einem Tänzerinnen mit ihren Spitzenschuhen. Bearbeitet von Nadel und Faden, Teppichmesser, Feuerzeug und Hammer verlässt der nagelneue Satinschuh seine ursprüngliche Form. Auf dem harten Weg zur Illusion der Schwerelosigkeit zählen die Utensilien ganz selbstverständlich zum Ballerinenalltag. Wie das tägliche Training, so ist auch das Bearbeiten der Schuhe Routine. Immerhin kann es vorkommen, dass die Solistinnen in großen klassischen Balletten mehrere Paare pro Vorstellung verschleißen. In einer Spielzeit werden beim Stuttgarter Ballett an die 3750 vertanzt. Deshalb wird jede Pause genutzt, um für Nachschub zu sorgen.

„Es ist eine Wissenschaft für sich“, sagt die Erste Solistin Miriam Kacerova. Jede Tänzerin entwickelt ihre eigene Methode, die Schuhe zu präparieren, damit sie wie eine zweite Haut am Fuß sitzen und wie ein Instrument perfekt für die individuellen Ansprüche eingespielt ist. Viele hämmern, schlagen und brechen die Härte aus den Schuhen heraus. Die Kanten werden abgewetzt oder vernäht, die Ecken abgerundet, die Ledersohle beschnitten. Je weicher die Sohle und je runder die Kanten, desto einfacher ist es auf- und abzurollen. Je härter, desto stabiler lässt sich balancieren. Zudem verschwindet das für Ballettomane auf der Bühne störende Klackern der Schuhe. Die Geräusche sollen schließlich nicht die Wahrnehmung der optischen Leichtigkeit zerstören.

Obwohl sie immer noch von Hand hergestellt werden, sind Spitzenschuhe heute Hightech-Instrumente. Sie lassen sich in jeglicher Passform, Härte und seit 2018 auch in unterschiedlichen Hautfarben bestellen. Vor 250 Jahren führte Marie Taglioni die neue Art zu tanzen ein, nachdem sie Amalia Brugnoli in Wien 1823 beobachtet hatte. Während Kolleginen es nur unter offensichtlicher Anstrengung schafften, der Schwerkraft entgegen zu wirken, entstieg Marie Taglioni in den 1830er-Jahren scheinbar den physikalischen Gesetzen der Natur. Der Star des romantischen Balletts war geboren. Grazil enttrippelte sie in jenseitige Gefilde, ließ die Köpfe der ZuschauerInnen schwirren und KritikerInnen sich überschlagen. Mit ihrer sublimen Technik verhalf die „Göttin des Tanzes“ dem Ballett zu neuen Höhen. Marie Taglioni stopfte ihre Satinschläppchen mit verhärteter Baumwolle aus, später dienten Holz- oder Ledereinsätze dazu, die Spitze zu verhärten. Doch die Ballerinen des 19. Jahrhunderts waren noch nicht in der Lage, sich länger auf ihren Fußspitzen zu bewegen. Im Gleichschritt entwickelten sich Schuh und Tanztechnik im folgenden Jahrhundert weiter, sodass heute die Tänzerinnen tatsächlich en pointe tanzen – und zwar das gesamte Spektrum der Kunst. Wie Chimären aus der Romantik schweben sie als Schwäne, Wilis und Bajaderen; wie Amazonen des 21. Jahrhunderts rammen und stechen sie ihre Schuhe in den Boden. Gut präpariert ist der Schuh ihre solide Basis und das Instrument, um schwerelos zu schweben und ihren Standpunkt zu vertreten. Hammer, oder?

Pia Boekhorst
Fotos: Rocio Aleman und Miriam Kacerova präparieren ihre Spitzenschuhe (links), Elisa Badenes mit ihrem fertigen Werk (rechts), © Roman Novitzky

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